Die strategische Bedeutung des Produktmanagements für private Krankenversicherer
1. Oktober 2025Pavel Berkovitch (Vorstand Digitalisierung und Querschnitt der Landeskrankenhilfe (LKH))|
Petra Kortmann (Leitung Produktmanagement der Landeskrankenhilfe (LKH)) |
Wie sich innovative Produktgestaltung zum zentralen Wettbewerbsfaktor entwickelt
Einleitung: Zwischen Stabilität und Disruption
Das deutsche Gesundheitssystem gilt international als besonders leistungsfähig und zugleich kostenintensiv. Es basiert auf einem dualen System aus gesetzlicher und privater Krankenversicherung. Laut Angaben des PKV-Verbandes waren Ende 2024 rund 8,74 Millionen Menschen privat krankenvollversichert, weitere 31,2 Millionen besaßen Zusatzversicherungen. Damit ist nahezu jeder zweite Deutsche in irgendeiner Form privat krankenversichert.
Besonders dynamisch entwickelt sich derzeit die betriebliche Krankenversicherung, die als wachstumsstärkstes Segment gilt. Hier vermeldet der PKV-Verband eine Steigerungsrate von 30,8% von 2023 auf 2024. Demnach besitzen 2,5 Millionen Arbeitnehmer in 51.400 Unternehmen eine betriebliche Kranken- oder Pflegeversicherung.
Doch die private Vollversicherung bleibt das Herzstück der PKV-Branche: Sie trägt eine hohe sozialpolitische Verantwortung, da sie als Vollversicherung die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) ersetzt (substituiert). Im Unterschied zur GKV gibt sie durch die Versicherungsbedingungen ein lebenslanges Leistungsversprechen ab – von Prävention über akute Behandlung bis hin zur Begleitung bei chronischen oder unheilbaren Erkrankungen.
Gleichzeitig steht die PKV-Branche unter massivem Veränderungsdruck. Regulatorische Vorgaben, veränderte Kundenerwartungen, der demografische Wandel und technologische Innovationen erzwingen eine strategische Neuausrichtung. In diesem Transformationsprozess entwickelt sich das Produktmanagement vom Tarifverwalter zum zentralen Wertetreiber für Innovation, Differenzierung und Kundenzufriedenheit.
1. Vom Tarifverwalter zum strategischen Architekten
Lange Zeit war das Produktmanagement in der PKV gleichbedeutend mit Tarifanpassungen und der Sicherstellung regulatorischer Konformität. Doch dieses Selbstverständnis greift zu kurz. Erfolgreiche Versicherer erkennen die Funktion inzwischen als strategischen Dreh- und Angelpunkt.
Das moderne Produktmanagement agiert als Architekt, der Markt- und Kundenanforderungen frühzeitig erkennt, in zukunftsfähige Produktideen übersetzt und deren Umsetzung unternehmensweit steuert. Dabei ist es nicht nur Bindeglied zwischen Fachabteilungen, sondern zunehmend auch Gestalter einer klaren strategischen Positionierung des Unternehmens.
Produktmanager und -managerinnen bewegen sich an der Schnittstelle zwischen Markt, Vertrieb, IT, Aktuariat, Recht, Antrag, Vertrag, Leistung und Kundenservice. Diese Rolle erfordert mehr als fachliche Kompetenz: Gefragt sind strategisches Denken, methodische Agilität, ausgeprägte Kommunikationsskills und die Fähigkeit, crossfunktionale Teams zielgerichtet zu führen.
Die Komplexität ergibt sich dabei nicht nur aus der Vielzahl der Schnittstellen, sondern auch aus der Verantwortung, Produkte über ihren gesamten Lebenszyklus hinweg zu begleiten. Von der Entwicklung über die Markteinführung bis hin zur Anpassung an neue Rahmenbedingungen fungiert das Produktmanagement als übergeordnete Steuerungsinstanz.
Abbildung 1: Am Produktentwicklungsprozess beteiligte Bereiche
2. Kundenfokus als Leitprinzip
Die Erwartungen der Kunden und Kundinnen an private Krankenversicherer verändern sich spürbar. Gefordert sind flexible, transparente und digital zugängliche Lösungen. Anstelle starrer Tarifmodelle treten modulare, verständliche Produktbausteine. Ergänzend rückt die Nachfrage nach zusätzlichen Mehrwerten in den Vordergrund – von Präventionsprogrammen über digitale Gesundheits-Apps bis zu individuellen Serviceleistungen.
Ein strategisch verankertes Produktmanagement betrachtet Produkte daher nicht isoliert, sondern entlang der gesamten Customer Journey. Vom Erstkontakt über die Entscheidungsphase bis zur langfristigen Betreuung orchestriert es ein konsistentes und positives Nutzererlebnis. So entsteht nachhaltige Kundenbindung weit über die reine Leistungsabrechnung hinaus.
Besonders in der Vollversicherung bleibt die Entscheidung für den Wechsel von der GKV in die PKV komplex. Digitale Abschlüsse sind selten, da die Zielgruppe nach wie vor zu den „ROPO“-Kunden (Research online, Purchase offline) gehört: Sie informieren sich online, treffen ihre endgültige Entscheidung jedoch noch immer nach persönlicher Beratung. Hier wird das Produktmanagement zum Wissensvermittler: Es muss Produkte so gestalten und kommunizieren, dass junge Zielgruppen mit hohem Informationsbedarf Orientierung finden und gleichzeitig die professionelle Beratung sinnvoll ergänzt wird.
Auch das Thema Transparenz gewinnt an Relevanz. Kunden und Kundinnen erwarten heute klare Informationen über Leistungen, Kosten und Ausschlüsse. Produktmanagement muss daher Kommunikationsstrategien entwickeln, die Vertrauen schaffen und die Komplexität von PKV-Tarifen reduzieren.
3. Innovationsdruck durch neue Marktteilnehmer
Die Digitalisierung verändert nicht nur Kundenverhalten, sondern auch die Wettbewerbslandschaft. Start-ups, Insur-Techs und branchenfremde Anbieter drängen mit innovativen Services auf den Markt. Gleichzeitig erwarten Vertrieb und Ärzte und Ärztinnen digitale Schnittstellen und schnelle Reaktionszeiten.
Für das Produktmanagement bedeutet dies: Innovationsprozesse müssen systematisch aufgesetzt und konsequent am Markt validiert werden. Agile Methoden wie das Testen von MVPs (Minimum Viable Products) mit ausgewählten Vertriebspartnern und Kundengruppen gewinnen an Bedeutung. Durch iteratives Feedback und wiederkehrende aktuarielle, rechtliche und vertriebliche Bewertungen lassen sich Produkte so lange verfeinern, bis sie die optimale Balance aus Preis, Leistung und Marktattraktivität erreichen.
Abbildung 2: Modell interative Produktentwicklung PKV
Zukunftsweisend wird auch die Zusammenarbeit mit Start-ups und Technologiepartnern. Ziel ist es, Innovation nicht nur zu adaptieren, sondern Trends aktiv mitzugestalten. Vor allem im Zusatzversicherungsgeschäft bietet sich hier noch erhebliches Potenzial für differenzierte, maßgeschneiderte Angebote. Ein Beispiel sind digitale Gesundheitsplattformen, die Versicherungsprodukte mit Services wie Telemedizin, Online-Coachings oder personalisierten Gesundheitsprogrammen kombinieren. Hier entstehen Ökosysteme, die weit über die klassische Versicherung hinausreichen und den Kunden und Kundinnen echten Mehrwert bieten.
4. Datenbasierte Produktentwicklung als Schlüssel
Daten sind längst zum entscheidenden Rohstoff der Produktentwicklung geworden. An die Stelle von Annahmen treten faktenbasierte Analysen, die tiefere Einblicke in Kundenverhalten, Schadenhäufigkeiten und Leistungsinanspruchnahmen ermöglichen. Private Krankenversicherer verfügen über umfassende Datenbestände – von Gesundheitsangaben beim Vertragsabschluss bis hin zu Behandlungs- und Kostenverläufen im Kundenverhältnis. Richtig genutzt, liefern diese Informationen wertvolle Erkenntnisse für die Weiterentwicklung von Produkten, Tarifen und Services.
Moderne Produktmanager und -managerinnen nutzen diese Datenschätze, um präzisere Risikomodelle zu entwickeln, Preiskalkulationen zu optimieren und Zielgruppen passgenau anzusprechen. Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) eröffnet darüber hinaus die Möglichkeit, künftige Bedürfnisse frühzeitig zu identifizieren und entsprechende Angebote proaktiv zu gestalten. So hilft KI dem Produktmanagement bei Marktanalysen, eine verbesserte und somit wesentlich spezifischere Kundenansprache zu finden. Genauso werden aktuarielle Preisfindungsprozesse unterstützt sowie eine passgenaue Risikoprüfung. Prozesse in der Antragsprüfung, Vertragsbearbeitung und Leistungsabwicklung können mit Hilfe von KI stärker als sogenannte Dunkelprozesse gestaltet werden.
Damit entwickelt sich das Produktmanagement vom reaktiven Organisator zum datengetriebenen Steuerungsinstrument, das Markterfolg und Profitabilität maßgeblich beeinflusst. Ein datenzentrierter Ansatz ermöglicht zudem eine proaktive Steuerung von Gesundheitsrisiken und trägt zur Kostenstabilisierung im System bei.
5. Transformation braucht Kulturwandel
Die Aufwertung des Produktmanagements zur strategischen Schlüsselrolle gelingt nur, wenn sie kulturell verankert wird. Produktmanager und -managerinnen benötigen mehr Entscheidungsfreiheit und Verantwortung – und gleichzeitig die Bereitschaft, unternehmerisch zu denken und kalkulierte Risiken einzugehen.
Eine innovationsfreundliche Kultur zeichnet sich durch kurze Feedbackschleifen, iterative Entwicklungsschritte und eine enge Zusammenarbeit über Bereichsgrenzen hinweg aus. Vor allem die Verbindung mit den Abteilungen Vertrieb, Aktuariat, IT, Recht, Antrag, Vertrag, Leistung und Kundenservice muss enger und dialogorientierter werden. Nur so lässt sich die notwendige Geschwindigkeit und Qualität in der Produktentwicklung sicherstellen.
Diese Transformation erfordert einen Change im Mindset aller am Prozess Beteiligten. Dabei müssen Stakeholder mit gutem Beispiel vorangehen, vor allem aber Freiräume schaffen und eine gesunde Fehlerkultur kreieren. Eine Transformation kann nur gelingen, wenn nicht nur die Produktmanager und -managerinnen empowerd werden, sondern ebenfalls alle am Produktentwicklungsprozess beteiligten Mitarbeitende. Wenn dieser Change gelingt, wird die Strahlkraft der Transformation alle Unternehmensbereiche erreichen.
6. Rechtliche und regulatorische Rahmenbedingungen
Neben Markt- und Kundenanforderungen prägen regulatorische Vorgaben die Arbeit des Produktmanagements in der PKV entscheidend. Europäische Richtlinien, nationale Gesetze sowie die Aufsicht durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) setzen enge Grenzen für Produktgestaltung, Transparenzanforderungen und Risikokalkulation.
Hier ist das Produktmanagement gefordert, Innovationen mit regulatorischer Sicherheit zu verbinden. Ein modernes Produkt kann nur dann erfolgreich sein, wenn es nicht nur den Kundenerwartungen entspricht, sondern auch den rechtlichen Anforderungen standhält. Dazu gehört ein tiefes Verständnis für Datenschutzregelungen, Verbraucherschutz und branchenspezifische Normen.
Die Integration von Regulatorik in den Produktentwicklungsprozess darf nicht als Hindernis, sondern muss als Qualitätsfaktor verstanden werden. Wer regulatorische Anforderungen frühzeitig berücksichtigt, kann Produkte schneller auf den Markt bringen und Risiken minimieren. Gerade in einem hochsensiblen Bereich wie der Krankenversicherung ist Vertrauen die wichtigste Währung.
Fazit: Produktmanagement als Wettbewerbsfaktor
Im Wettbewerb der Zukunft entscheidet nicht mehr allein der Preis über den Erfolg einer privaten Krankenversicherung. Ausschlaggebend ist vielmehr die Fähigkeit, innovative und kundenorientierte Produkte schnell, effizient und zuverlässig auf den Markt zu bringen. Es bewährt sich auch in der Krankenversicherung, dabei mit Hilfe von MVPs und iterativen Produktentwicklungsprozessen zur schnelleren Einführung passgenauer Produkte zu kommen. Wer Trends früher erkennt wird in der Lage sein, Krankenversicherungsprodukte um Services zu einem holistischen Angebot im gesamten Erleben rund um Gesundheit zu formen.
Das Produktmanagement übernimmt dabei eine Schlüsselrolle: als Impulsgeber für Innovationen, als Brückenbauer zwischen Fachbereichen und als Architekt einer zukunftsfähigen Gesamtstrategie. Versicherer, die diese Rolle frühzeitig aufwerten und konsequent mit Leben füllen, sichern sich langfristige Wettbewerbsvorteile – und gehören morgen zu den Gewinnern im dynamischen PKV-Markt.
Pavel Berkovitch:
Petra Kortmann: